Direkt zum Hauptbereich

Tagungsbericht zur Regensburger Veranstaltung „Juristische Zeitgeschichte – Zurück in die Achtziger Jahre“ vom 22.-23. Oktober 2020 (via ZOOM)

Ab wann zählt die Vergangenheit zur Geschichte? Allein im Verweis auf den Ablauf einer bestimmten Zeit, wird man diese Frage kaum beantworten können. Geschichtsschreibung ist niemals statisch, sie folgt eigenen Regeln. Es überrascht deshalb nicht so sehr, wenn sich Rechtshistoriker in einem „virtuellen Regensburg“ versammeln, um eine Epoche aufzuarbeiten, auf die man noch gar nicht so lange zurückblicken kann: die 1980er Jahre.

Traditionell macht den Auftakt der Veranstalter. So umbaut Martin Löhnig nach einem Grußwort das Plenum mit der Kulisse der 80er Jahre: eine Zeit gesellschaftlicher Probleme nicht nur in den Bereichen Arbeit, Zuwanderung oder Umwelt, sondern generell die Zeit einer „pessimistischen Grundstimmung“, in der letztlich Orwells dystopische Prophezeiung eines Nineteen Eighty-Four Wirklichkeit zu werden scheint. Eine Zeit also, in der sich nicht nur Begriffe wie z.B. die sog. Sockelarbeitslosigkeit festigen, sondern in der eine – aus heutiger Sicht eher unbedenklich erscheinende – Volkszählung von massiven Protesten begleitet wird.

Malte Hakemann (Göttingen) beginnt mit dem ersten Sachvortrag zur Asylrelevanz von Folter. Der Wortlaut des schon damals identischen ersten Absatzes von Art. 16a GG könnte auf den ersten Blick eindeutiger kaum sein: „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht.“ Allerdings zeigt Hakemann, dass die konkrete Auslegung des Begriffs des „Politisch Verfolgte[n]“ nicht nur unklar ist, sondern insbesondere im Kontext der von Folter bedrohten Asylsuchenden von den Gerichten auch höchst unterschiedlich gehandhabt wurde. Erst 1975 hat das Bundesverwaltungsgericht in Abkehr einer Heranziehung der Genfer Flüchtlingskonvention klargestellt, dass der Inhalt der grundgesetzlichen Norm aus sich heraus bestimmbar sein muss. Zur Frage, ob dies beispielsweise nach subjektiven oder objektiven Kriterien zu erfolgen hat, nimmt das Bundesverfassungsgericht erst 1980, dann zugunsten einer objektiven Bestimmung Stellung. Weil Folter und politische Verfolgung nicht notwendig in einem Abhängigkeitsverhältnis stehen, wurde die Frage nach der Asylrelevanz von Folter nicht nur besonders problematisiert, sondern es erschien letztlich auch möglich, bei Bejahung der Folter zugleich eine Verneinung des Asylrechts anzunehmen. Insgesamt beobachtet Hakemann letztlich eine „Paarbeziehung von camoufliertem Etatismus und Dogmatik“; seine Thesen stoßen im Plenum auf Zustimmung.

Im zweiten Vortrag behandelt Sebastian Gehrig (London) die Frage nach der Bedeutung der „Deutschenfähigkeit“. Mit dem Teso-Urteil dient als Aufhänger der vermeintliche Einzelfall, des deutsch-italienischen Marco Teso, dessen westdeutscher Pass 1974 von einer Kölner Behörde eingezogen und dessen deutsche Staatsangehörigkeit in Folge verneint wird. Gehrig zeigt dabei, wie aus einem Einzelfall letztlich ein Präzedenzfall werden konnte und ordnet diesen zudem in einen Kontext zwischen „deutsch-deutscher Solidarität und Einwanderungsängsten“ ein, die z.B. in einem Verbot von Doppelstaatsangehörigkeit und der Einschränkung von Einbürgerungen Ausdruck findet. Ist ostdeutsche Migration eine Form von Einwanderung oder geht die Staatsnachfolge mit einer Identitätsübernahme einher? Gehrig zeigt nicht nur die Zeichen einer sich wandelnden gesellschaftlichen und juristischen Debatte um Einwanderung und nationale Identität, sondern geht auch auf die immer häufigere Anerkennung ostdeutscher Verwaltungsakte ein. 1987 erkennt schließlich das Bundesverfassungsgericht Tesos Recht auf deutsche Staatsangehörigkeit an.

Freia Anders (Mainz) und Alexander Sedlmaier (Bangor/Wales) untersuchen zusammen die juristische Expertise in den Gewaltkommissionen der BRD zwischen 1977–1990. In den 1980er Jahren entwickelt sich der Gewaltbegriff zu einem Kampfbegriff, dessen Verständnis immer mehr von einem Alltagsverständnis abweicht. Ziviler Ungehorsam, z.B. in überwiegend passiver Form wie bei Brokdorf, fordern den Gewaltbegriff heraus. Die Kommission spricht sich für einen restriktiven Gewaltbegriff und eine Reform des § 240 StGB aus, der sich vor allen Dingen auf physischen Zwang beschränken sollte. Allerdings zeichnet sich in den eingesetzten Kommissionen ab, dass juristische Expertise nur eine untergeordnete Rolle spielt. Die anschließende Diskussion dreht sich vor allen Dingen um die von den ReferentInnen bereits aufgeworfene Frage, inwieweit man deshalb von einer Instrumentalisierung der Wissenschaft zu politischen Zwecken sprechen kann.

Nach einer kurzen Pause trägt Robert Wolff (Frankfurt) zu den Anti-Terror-Gesetzen vor und kontextualisiert diese zwischen „juristischen Handlungsmöglichkeiten und Rechtsbeugung aus politischen Gründen“. Im Fokus liegt dabei die Rolle der sog. Revolutionären Zellen (RZ), dessen Bekanntheitsgrad im Schatten der RAF gemessen an den mindestens 200 mit ihnen in Verbindung stehenden Anschlägen erstaunlich gering erscheint. Am 20. Dezember 1974 tritt das erste „Anti-Terror-Paketgesetz“ in Kraft, das z.B. mit der Möglichkeit auch in Abwesenheit des Angeklagten zu verhandeln auf strafprozessualer Ebene gegen Terrorismus vorzugehen versuchte. Der später eingeführte § 129a StGB schafft hingegen nicht nur eine tatbestandliche Grundlage, sondern wird als Ad-hoc Reaktion des Gesetzgebers immer mehr erweitert, was den Beginn strafbaren Verhaltens immer näher rücken ließ. Häufig kam es zu Verurteilungen, ohne dass Straftaten im eigentlichen Sinne nachgewiesen wurden. Der in einer Rückfrage geäußerten Vermutung von Sedlmaier, dass die Funktion des § 129a StGB letztlich nicht nur die Möglichkeit einer Verurteilung von RZ-Mitgliedern gewesen sein könnte, sondern § 129a StGB für die RZ letztlich nicht auch realitäts- und perzeptionsgenerierend war, kannWolff in weiten Teilen beitreten.

Der erste Tagungstag endet mit einem Vortrag von Stephan Müller (Regensburg) zu den Hausbesetzungen, ein Thema, das im Hinblick auf Liebig 34 aktueller denn je erscheint. Anders als Liebig 34, das im aktuellen Kontext als Einzelgeschehen einzuordnen sein dürfte, zeigt Müller, dass die Hausbesetzungen in den 1980ern hingegen das Symptom einer gesamtgesellschaftlichen Entwicklung darstellten. Als Reaktion z.B. auf die zunehmende Wohnungsknappheit bei ebenfalls zunehmenden Leerstand an im fremden Eigentum stehendem Wohnraum, wurden Hausbesetzungen zu einem damaligen Gesellschaftsphänomen. Zugleich zeigt sich der Widerstand nicht nur als Zeichen eines sich wandelnden Verständnisses von Eigentum im Besonderen, sondern auch als Zeichen eines sich wandelnden Verständnisses von Individuum und Staat im Allgemeinen. 

Den zweiten Veranstaltungstag eröffnet Andrea Kießling (Bochum) mit Fragen um die Grundrechtsrelevanz der damaligen Maßnahmen gegen die Verbreitung des bis dato noch kaum erforschten HI-Virus und beleuchtet dabei nicht nur unmittelbare Probleme bei der Auslegung und juristischen Handhabung des BSeuchG und des GeschlKrG (beide 2001 durch das IfSG abgelöst), sondern geht auch auf durch die praktische Anwendung erfolgte Stigmatisierungsfolgen ein. Das allgemein gehaltene GeschlKrG sieht z.B. nicht nur weitreichende Maßnahmen wie eine Behandlungsanordnung vor, sondern wurde praktisch fast ausschließlich auf die im Rahmen der Virusausbereitung stark stigmatisierten Prostituierten angewendet. Diskutiert wurden auch Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu den Problemen der aktuellen COVID-19-Pandemie, die letztlich ebenso zu einer Renaissance des IfSG führte wie die damalige Pandemie die beiden oben erwähnten Gesetze wiederbelebte.

Weiter geht es mit Michael Schied (Regensburg), der mit einer jedenfalls insoweit verwandten Thematik anschließt, als auch Drogenkonsumenten im Rahmen der Ausbreitung des HI-Virus immer stärker einer Stigmatisierung ausgesetzt sahen. Schieds Beitrag um die „Drogenpolitik zwischen Repression und Methadon“ dreht sich vor allen Dingen um Erneuerungen im BtMG; trotz vieler Debatten um eine neue Drogenpolitik gab es allerdings zuerst kaum Änderungen. Insgesamt lässt sich allerdings ein Trend beobachten, nachdem die Drogenpolitik sich immer weiter von Strafe hin zu Therapiemaßnahmen entfernte, was nicht nur den Stigmatisierungseffekten entgegengewirkt haben dürfte. Demgegenüber dürfte wiederum die mangelnde gesetzliche Differenzierung zwischen Abhängigkeit und Konsum einen gegenteiligen Effekt gehabt haben.

Andreas Fürst (Regensburg) wirft Eingangs die Frage auf, was Darth Vader und Dagobert Duck gemeinsam haben: Seit aufgrund der COVID-19-Pandemie im Rahmen des Infektionsschutzes bei Gaststättenbesuchen Kontaktdaten hinterlassen werden müssen, scheinen beide besonders häufig gemeinsam auszugehen. Die darin anklingende Skepsis in Bezug auf staatliche Datenerhebung war ebenfalls Auslöser der 80er-Proteste gegen die damalige Volkszählung. Die Rechtsgrundlage sah eine Totalerhebung vor, die insbesondere mit Verweis auf die Folgen der Volkszählung im Jahre 1933 besonders kritisch gesehen wurde. 1200 Verfassungsbeschwerden sprechen eine deutliche Sprache und leiten das Zeitalter des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung ein. Fürst ordnet die aus heutiger Sicht – trotz Falschangaben bei Gaststättenbesuchen – großflächigen Proteste gegen die Volkszählung in eine skeptische Gesamtstimmung gegenüber Computer, EDV und Technik ein. Diskutiert wurde anschließend unter anderem das Verhältnis zum Lüth-Urteil oder Brokdorf-Beschluss, aber auch die bereits kritisierte politische Vorbemerkung anlässlich des Volkszählungsurteils des Bundesverfassungsgerichts.

Den Abschlussvortrag hält Jonas Plebuch (Münster), der sich als Verfassungsrechtler die Frage stellte, ob die 1980er als das „dogmatisierende Jahrzehnt“ bezeichnet werden können. Ausgehend von der Beobachtung eines immer stärkeren „Bundesverfassungsgerichtspositivismus“ (Schlink) erläutert Plebuch nicht nur die Rolle des Bundesverfassungsgerichts, sondern auch diejenige von Staatsrechtslehrern und deren Lehrbüchern für die Dogmatisierung der Staatsrechtslehre. Gerade auch die wachsende Rolle des Europarechts löste dabei immer neue Kämpfe um Deutungshoheit aus. Letztlich ist es auch vor allen Dingen die immer stärkere Konstituierung der EU, die zu wesentlichen Veränderungen führt. Bereits in den 1980ern lässt sich allerdings eine zunehmende Homogenisierung der Staatsrechtslehre beobachten.

Die Diskussion zum letzten Vortrag geht fließend in eine Abschlussdiskussion über. Ziel der Tagung war es, einen Aufschlag zur Aufarbeitung der 1980er Jahre zu geben. Dieser Aufschlag kann als angekommen bezeichnet werden. Die Frage, wo die 1980er denn nun genau sitzen, wird allerdings noch nicht abschließend beantwortbar sein. Dies wird – was sich im Rahmen der Tagung als ein flächendeckendes Problem herauskristallisierte – auch durch einen schweren Zugang an wichtige Akten erschwert, die teilweise (zu?) lange auf ihre Erschließung warten oder, obwohl Sie bereits erschlossen sind, häufig nicht über dasjenige Maß hinaus herausgegeben werden, das rechtlich erzwingbar ist. So vielfältig die Probleme der Aktenbeschaffung sind, so vielfältig ist allerdings auch der in den 1980ern vorzufindende Disziplinenpluralismus. Juristen tauschen sich vermehrt mit Sozialwissenschaftlern und Psychologen aus, um auf gesellschaftliche Probleme rechtlich adäquate Lösungen finden zu können. Wie Löhnig im Schlusswort betont, verlässt man eine Tagung häufig nicht nur mit Antworten, sondern auch mit neuen Fragen. Können die 1980er Jahre vielleicht insgesamt als ein Korrektiv konservativer Narrative aus früheren Zeiten bezeichnet werden? Eine von vielen Fragen, die weitere Forschung anstoßen könnte.

(Eray Gündüz)

 

Beliebte Posts aus diesem Blog

TAGUNGSFÖRDERUNG: Norditalien als contact zone zwischen österreichisch-ungarischem und italienischem Recht

Der Förderverein Europäische Rechtskultur e.V. fördert die im Juni 2023 in Regensburg stattfindende Tagung "Norditalien als contact zone zwischen österreichisch-ungarischem und italienischem Recht"

TAGUNGSFÖRDERUNG: The Silesian Voivodeship: Analysis of a "legal interspace"

Der Förderverein Europäische Rechtskultur e.V. fördert die im März 2023 in Regensburg stattfindende Tagung zu Oberschlesien in der Zwischenkriegszeit.

Call for Articles

Shaping Europe will be the theme for the 2023 volume of Rechtskultur. The making of Europe has been at the core of legal, political, philosophical, and economic debates for decades. Nowadays, the identity of the European construction is at stake. By Shaping Europe the editors want to focus on how law makers, courts and legal scholars contributed to different concepts and narratives of Europe along the centuries and on the heritage of these different views. The editors welcome contributions from all relevant fields of science with a maximum length of 100 000 characters. Contributions should be submitted by using rechtskultur@ur.de within 30. October 2023. All contributions will be peer reviewed, and admittance for publications rests on the merits of the contribution alone.